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Peter Branner im Gespräch mit Dorothea Biehler
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begann der Spruch zu zirkulieren: „Ein Spezialist ist jemand, der immer mehr über immer weniger weiß – bis er letztendlich absolut alles über gar nichts mehr weiß.“ Und es schien, als wären die Universalisten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jhdts. verschwunden. mBegegnet man Dorothea Biehler an ihrem Arbeitsplatz im Orchesterbüro, dann stellt man nach kurzer Zeit staunend fest, es gibt sie noch, die Universalisten. Das beginnt gleich mit ihren drei unterschiedlichen Berufen. Sie ist Projektassistentin (seit 2014 für das MOS), zugleich aber auch diplomierte Orchestermusikerin und ausgebildete Redakteurin.
Das wirft die Frage auf, woher kommt diese Vielseitigkeit und war Musik in der Familie ein Thema?
Mein Opa väterlicherseits, der 1904 mehr „zufällig“ in Salzburg geboren ist, erlernte in Hannover Orgelbau und war als Stummfilmpianist tätig. Meine Oma väterlicherseits stammt aus Thüringen und studierte Geige in Berlin, wo sie meinen Opa kennenlernte, der zur selben Zeit dort Klavier und Komposition studierte. 1945 floh Oma aus Berlin und landete in Wunsiedel im Fichtelgebirge, wohin mein Opa erst später aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Meine Oma gründete dort eine Musikschule und sorgte ihr gesamtes Berufsleben als Leiterin derselben für ein reges Kulturleben in dieser kleinen Stadt. Seinen ersten Violin-Unterricht hatte mein Vater bei ihr. Mein Opa erteilte private Klavierstunden und gab sich auch sonst allen möglichen Künsten hin: Komposition, Malerei, Schnitzerei, Teppichknüpfen, Literatur, Philosophie, Verfassen von Aphorismen. In dem Haus meiner Großeltern gab es kein Radio, keinen Plattenspieler, keinen Fernseher. Wenn es Kunst gab, dann gab es sie nur live!Jeder Kunstgenuss wurde sozusagen selbst erschaffen. Es verwundert nicht, dass in einer solchen Umgebung der Vater, Walter Forchert, ebenfalls den Musikerberuf ergreift. Er wird Geiger und bringt es zum 1. Konzertmeister bei den Bamberger Symphonikern. Auch die Mutter – eine waschechte Berlinerin – studiert Musikwissenschaft, widmet sich aber bald der Familie. Ihr Instrument ist ursprünglich die Geige, sie wechselt aber später zum Cello. Das ist auch das Instrument der Schwester von Dorothea Biehler, während sich der Bruder in der Rockmusikszene wohlfühlt.
Doro – wie sie Vertraute nennen dürfen – ist mehr „zufällig“ in Berlin-Zehlendorf geboren, jedoch bereits wenige Monate später nach Bamberg gekommen und dort aufgewachsen. Nicht geklärt zwischen Vater und Tochter ist bis heute die Frage, wer von den beiden wollte, dass die sechsjährige Doro mit dem Geigespielen beginnt.
Der Wunsch, es studieren zu wollen, ist bei mir relativ spät gekommen, erst mit 15 oder 16 Jahren. Vorher habe ich mich eigentlich etwas gequält damit. Dann aber habe ich Gas gegeben, die Begeisterung war plötzlich da.
„Konzerterfahrung“ hat sie schon früh gesammelt. Sei es bei den Konzerten der Bamberger Symphoniker oder wenn sie den Vater bei einem Gastspiel begleiten darf. Da es in Bamberg keine Musikhochschule gibt, übersiedelt sie nach Stuttgart und studiert bei Prof. Wilhelm Melcher, dem Primarius des berühmten Melos Quartetts, danach in Berlin an der Hochschule der Künste bei Tomasz Tomaszewski, dem 1. Konzertmeister an der Deutschen Oper Berlin. 1995 erwirbt sie ihr Diplom.
Schon während der Studienzeit gelingt es Doro durch Zeitverträge, als Geigerin im Orchester der Deutschen Oper Berlin und im Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zu spielen. Von letzterem erhält sie 1993 ein Stipendium der Ferenc-Fricsay-Gesellschaft.
Welche Dirigenten lernt sie in diesen Jahren kennen?
Es sind klingende Namen wie Giuseppe Sinopoli (mit dem RIAS-Jugendorchester), Rafael Frühbeck de Burgos, Christian Thielemann, Fabio Luisi, Marcello Viotti, Horst Stein (Deutsche Oper Berlin) und Vladimir Ashkenazy (Deutsches Symphonie-Orchester).
Ganz besonders sind ihr die Opernvorstellungen unter Thielemann und eine Aufführung von Bruckners Neunter unter Günter Wand in Erinnerung geblieben.
Wie ging es weiter?
Meine erste fixe Anstellung als Geigerin erhielt ich 1996 bei den Hamburger Symphonikern, ging aber 1997 aus privaten Gründen zurück nach Berlin.
Damals beginnt für Dorothea Biehler ein neuer Abschnitt des Lernens, der Weg zur „Universalistin“. Sie entschließt sich für EDV und Bürowirtschaft.
Weil sie immer schon gerne schreibt und sehr früh auch mit dem Beruf der Journalistin liebäugelt, ja sogar überlegt, Musik und Journalismus zu verbinden, beginnt sie anschließend mit einer Ausbildung zur Fachzeitschriftenredakteurin beim renommierten Klett-Verlag.
Bei der Komischen Oper Berlin konnte ich ein Praktikum absolvieren und durfte für Programmhefte Texte verfassen. Dann war ich auch in der Redaktion der Berliner Zeitschrift Kultur Pur tätig. Da ging es nicht nur um Musik, sondern um Kultur ganz allgemein. Schließlich schrieb ich als freie Mitarbeiterin auch für das Feuilleton der Berliner Morgenpost. Für den damals in Berlin lebenden Komponisten Arvo Pärt erledigte ich redaktionelle Arbeiten wie das Verfassen von CD-Booklets.
Es scheint, als würde Dorothea Biehler der Musik Lebewohl sagen, doch 1999 reaktiviert sie ihre Geige und wird für drei Jahre stellvertretende Konzertmeisterin im Theater am Potsdamerplatz bei der Musical-Produktion „Der Glöckner von Notre Dame“. Es war dies die Welturaufführung und das Stück wird bis zum 30.6.2002 en suite gespielt.
Fürchterlich? Enervierend?
Das war zwar künstlerisch nicht sehr ergiebig, aber wir waren eine exzellente Truppe, freundschaftlich sehr verbunden und sind jeden Abend gerne hingegangen. Nach der intensiven Probenzeit am Anfang hatte man eine geregelte Arbeitszeit von Dienstag bis Freitag mit täglich je einer Vorstellung und am Wochenende mit zwei. Ansonsten war der Tag frei und da habe ich sehr viel bei den Berliner Symphonikern ausgeholfen und meinen Hunger nach Klassik gestillt. Das Rätsel, wie man zwei Tätigkeiten, die am Abend aus-zuführen sind, unter einen Hut bringen kann, wird durch eingeschulte Substitute gelöst.
Darüber hinaus arbeitet Dorothea Biehler zwischendurch in der Pressestelle und leitet drei Monate das Orchestermanagement bei der Musical-Betriebsgesellschaft. Sie schafft es auch, mit den Berliner Symphonikern auf drei große Tourneen zu gehen: Südamerika, Japan und England. Sogar bei einer Kreuzfahrt ist sie mit einem Kammerorchester unterwegs. Nachdem das Musical abgespielt ist, besucht Dorothea Biehler einen Geigen-Kurs in Belgien, um sich für ein Probespiel fit zu machen. So gestärkt bewirbt sie sich 2003 um eine Festanstellung im Opernorchester des Gran Teatro del Liceo in Barcelona, die sie auch erhält.
Spricht sie spanisch? Kein Problem! Da hat sie ein Diplom, genauso für Englisch. Zudem nennt sie gute Kenntnisse der katalanischen und der russischen Sprache ihr Eigen. Seit kurzem lernt sie Ungarisch.
2010 werden in Barcelona wegen finanzieller Schwierigkeiten Musikerinnen und Musiker gekündigt, bei einer neuerlichen Kündigungswelle zwei Jahre später erwischt es auch Dorothea Biehler.
Was macht sie? Sie belegt einen Bürokommunikationskurs, forciert ihre Weiterbildung. 2013 bekommt sie eine Aushilfstätigkeit bei den 2. Violinen des NDR-Sinfonieorchesters in Hamburg.
Schließlich gelingt ihr 2014 die Festanstellung als Projektassistentin im MOS, wo sie u.a. für die Redaktion der Programmhefte, der Jahresvorschau, für die Durchführung der Saisonplanung und die Betreuung von Künstlern und Dirigenten zuständig ist.
Gefragt nach Hobbies, nennt sie Musizieren, Schreiben, Lesen und Sprachen. Wen wundert es? Aber auch Fotografieren und Reisen sind dabei. Fotos von ihr, entstanden anlässlich einer Tournee des MOS, durften wir schon im Freunde-Journal abdrucken. Die Liste ihrer Reisen ist auch deshalb beeindruckend, weil viele davon mit Bildung und Kursen verbunden sind. Oder mit Freiwilligenarbeit in einem Projekt für sozial benachteiligte Kinder in Guatemala und der Übernahme einer Patenschaft für Cristian, eines der Projektkinder. In Bolivien besucht sie ihr Kindernothilfe-Patenkind Lucia. In Russland heißt ein weiteres Patenkind Mikhail, das geistig behindert ist und 2010 besucht wird.
Im Gespräch macht sie den Eindruck einer Frau, die fest in ihrer Mitte ruht, wach, unaufgeregt, freundlich und unglaublich wissensdurstig ist.
Neugierig wäre bei ihr das unpassende Wort.
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