Ein Plädoyer für Freiheit und Verbrüderung

„Wohin ich immer blicke in Stadt- und Weltchronik – Wahn, Wahn, überall Wahn …“, singt Hans Sachs in Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“. Nun, soweit man weiß, war der historische Hans Sachs ein Humanist der Renaissance. Wagner dagegen war der Wahn, den er beschwor, leider nicht fremd. So ist es eben mit Künstlern, wohl auch mit Künstlerinnen, die in ihrem Leben Kinder ihrer Zeit waren und sind. Trotzdem hatten und haben sie die Gabe, Zeitloses zum Ausdruck zu bringen. Die „Meistersinger“ sind ein hochaktuelles Stück über die Freiheit der Kunst geblieben, trotz der oft missverstandenen und ideologisch verwendeten Nationalapotheose im Finale.

Nichts aber ist schlimmer auf dieser Erde als die tödliche Verbindung von Nationalismus und fundamentalistischer Auslegung von Religion. Wie eine faschistoide Priesterkaste ein Land und eine Liebe zerstören kann, hätte uns Verdis „Aida“ zeigen können, wenn dies der Regie ein Anliegen gewesen wäre. Wie verbrecherische Ideologie eine patriotische Geste von größter Strahlkraft und kompositorischer Meisterschaft falsch deuten kann, zeigt uns der Umgang Benito Mussolinis mit den römischen Legionen, die unter Ottorino Respighis „Pini di Roma“ über die Via Appia marschieren. Ich selbst werde nie die Begegnung mit einem Überlebenden der Shoah ausgerechnet in einer Pause der „Meistersinger“ in der Wiener Staatsoper vergessen. Der charmante alte Herr, hörbar in Wien geborener Israeli, erklärte mir, überhaupt kein Problem mit Wagner zu haben, denn der Kommandant des Lagers, in dem er war, habe für Mozart geschwärmt und deshalb könne er die „Kleine Nachtmusik“ nicht mehr hören, die in diesen finsteren Zeiten allabendlich im Hof der grauenvollen Stätte erklungen war. Keine Musik ist sicher davor, von gefährlichen Irren benutzt zu werden. Und sei es, indem sie Musik einfach verbieten.

Wir machen Musik trotz allem Grässlichen, was in der Welt gerade passiert. Wir setzen die Werke großer russischer Komponisten auf das Programm, denn sie können nichts für die Untaten ihrer Gewaltherrscher einst und jetzt. Ebenso wenig wie mit vielen ihrer jüdischen Zeitgenossen befreundete Meister wie Mozart und Brahms etwas für Hitler können oder Verdi und auch Respighi, wenn man sich näher mit ihm auseinandersetzt, für den italienischen Faschismus. Übrigens gab und gibt es in Israel und in Palästina komponierende und friedensbewegte Menschen, deren Stücke man auch hierzulande spielen könnte. Ja, und auch in der Ukraine wäre da viel Wertvolles zu entdecken.

Lassen Sie mich mit einem Zitat von Béla Bartók, der seine ungarische und, schon größer denkend, balkanische Heimat liebte und deren Musik zur Weltgeltung führte, enden: „Mein wahrer Leitgedanke ist die Verbrüderung der Völker. Dieser Idee trachte ich, soweit es meine Kräfte erlauben, mit meiner Musik zu dienen.“

Mit herzlichen Grüßen
Ihr Gottfried Franz Kasparek

15. Januar 2024
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