Eine Tradition in Salzburg

Zum Bruckner-Jahr 2024 – Gottfried Franz Kasparek

Der erste Direktor von „Dommusikverein und Mozarteum“, Aloys Taux, erlag im Jahr 1861 erst 44-jährig bei einer Chorprobe einem Herzinfarkt. Neben intensiver Aufbauarbeit hatte der umtriebige Mann sich auch dem Chorwesen gewidmet und die bis heute bestehende „Salzburger Liedertafel“ gegründet. Daneben war er im Theater unverzichtbar, wenn dort ein Kapellmeister gebraucht wurde. Um seine Nachfolge bewarb sich unter anderem ein gewisser Anton Bruckner, 37-jähriger Absolvent der Studien in Harmonie und Kontrapunkt bei Simon Sechter. Er erwähnte in seinem Bewerbungsschreiben, „die neue Geschmackseinrichtung und die Verfeinerung des Taktierstabes studiert“ zu haben und fügte ein Sittenzeugnis aus dem Stift St. Florian bei. Bruckner, mittlerweile bekannter, bewarb sich dann 1868 wiederum und fiel wiederum durch. Haben die ehrenwerten Herren – die Entscheidungsträger waren damals nur Herren – des Salzburger Vereins ein Genie nicht erkannt?

So einfach ist die Sache nicht. Anton Bruckner war ein visionärer Komponist, ein Organist der Weltklasse und ein hervorragender Lehrer, aber kein sonderlich begabter Dirigent, als Organisator unerfahren und mit keinerlei Theatererfahrung versehen. Obwohl das Theater nicht zum Mozart-Verein gehörte, stellte es für die Mitglieder von Anfang an eine wichtige zusätzliche Verdienstquelle und für den Verein einen Partner bei Aufführungen von Mozarts Opern dar. Noch dazu wollte Bruckner bei der zweiten Bewerbung nicht mehr zur Probe dirigieren, da ihm vom ersten Versuch die „aufgeregten Mädchen“ des Chors in schlimmer Erinnerung waren. Beide Ablehnungen fanden wohl zu seinem Glück statt. Man brauchte keinen genialen Egomanen, sondern einen vielseitigen Musiker und, heutig ausgedrückt, fähigen Kulturmanager. Und für Bruckners spezifische Begabungen war sicherlich die Musikmetropole Wien der bessere Platz – wie übrigens schon für Wolfgang Amadé Mozart.

Also wurde Hans Schläger, ein oberösterreichischer Landsmann und St. Florianer Sängerknaben-Kollege Bruckners, anno 1861 der Nachfolger von Taux. Als Leiter des Wiener Männergesangsvereins hatte er sich speziell für das Chorwesen profiliert. Sein Nachfolger wurde 1868 nicht Bruckner, sondern der Wiener Otto Bach. Der Musikgeschmack des Vereins war eher konservativ. Werke von Liszt, Wagner oder des zweimal gescheiterten Bruckner wurden nur zögerlich akzeptiert. Auch im Orchester gab es dagegen Widerstände, die durchaus an die Probleme mit Avantgardemusik im 20. Jahrhundert erinnern. 1870 kam es in Bruckners Anwesenheit im Dom zu einer Aufführung der d-Moll-Messe. Die Notizen des dritten Posaunisten in seiner Stimme blieben erhalten. Nach dem Credo: „14 Minuten. Jetzt lauf ich aber bald fort.“ Nach dem Benedictus schrieb er: „Bis jetzt 10 Minuten ohne Kommisszulage.“ An einer anderen Stelle lautet das Prädikat „schauderhaft“, und nach dem Amen vermerkte er: „Gott sei Dank“. Dies war aber kein Salzburger Phänomen – die Wiener Orchester reagierten mitunter nicht anders. Die Blamage der Wiener Philharmoniker, die Wagners „Tristan und Isolde“ als unspielbar abgelehnt hatten und dann erleben mussten, dass Josef Strauss im Augarten mit seiner Tanzkapelle Orchestervorspiel und Liebestod musizierte, lag 1870 erst wenige Jahre zurück.

Josef Friedrich Hummel, der von 1880 bis 1908 bisher am längsten amtierende Leiter des Mozarteums und so auch des Mozarteumorchester, war kein besonders charismatischer Pultstar, aber ein penibler Kapellmeister und seriöser Gestalter, der seinen wenig homogenen Klangkörper mit harter Arbeit zu Höchstleistungen animieren konnte. Hummel wagte sich auch an Bruckners 4. Symphonie und an das „Deutsche Requiem“ von Brahms, verteilte seine Gunst also gleichmäßig auf einander bekämpfende Schulen der Musik seiner Zeit. Ja, es gibt spätestens seit Hummel eine Tradition der Aufführung von Bruckners Symphonien durch das Salzburger Orchester. Im frühen 20. Jahrhundert setzten sie sowohl Franz Ledwinka als auch Bernhard Paumgartner immer wieder aufs Programm.

Ledwinka, wieder einmal ein Wiener in Salzburg, Komponist und Lehrer Herbert von Karajans, dirigierte die Salzburger Erstaufführung der 7. Symphonie von Anton Bruckner. Dies geschah am 15. Juli 1921 leider ohne die vom Komponisten vorgeschriebenen Wagnertuben und offenbar inmitten bedrückender Gehaltsverhandlungen. Wahrscheinlich wirkte im Orchester auch Karajans Vater Ernst als Klarinettist mit. Der war Amateur, weil im Brotberuf Arzt – ohne passionierte Liebhaber hätte das Orchester auch damals noch kaum groß besetzte Stücke spielen können. Übrigens dürfte die Aufführung im Großen Saal des Mozarteums nichts für empfindliche Ohren gewesen sein, wenn man an den Scherzo-Satz denkt. Die große Romantik war auch eine Liebe, doch nicht wirklich die Domäne des nächsten Wieners an der Salzach, Bernhard Paumgartner. „Die großen Symphonien von Brahms und Bruckner“, erinnerte sich später der legendäre Konzertmeister Joseph Schröcksnadel, „gerieten meist etwas dickflüssig und ließen oft die nötige Transparenz vermissen.“

Unter den Chefdirigenten nach 1945 befanden sich einige Persönlichkeiten, die sehr wohl in Sachen Bruckner hohe Kompetenz hatten, zum Beispiel Meinhard von Zallinger und insbesondere der gebürtige Stadt-Salzburger Leopold Hager, der am 6. November 1969 in einem Konzert der Salzburger Kulturvereinigung erstmals eine Bruckner-Symphonie mit „seinem“ Orchester im Großen Festspielhaus musizierte, die „Siebente“ – und eben diese auch anlässlich seines 80. Geburtstags dreimal im September 2015! Dem immer noch international aktiven Maestro und uns ist zu wünschen, dass dies nicht seine letzte Begegnung mit Bruckner in Salzburg gewesen ist. Auch Hagers Nachfolger Ralf Weikert (geboren in St. Florian!), Hans Graf (auch ein Oberösterreicher) und der Niederländer Hubert Soudant widmeten sich mitunter auf höchstem Niveau dem Werk Bruckners; die CD-Aufnahmen der „Achten“ unter Graf, produziert 1994 vom Verein der Freunde des Mozarteumorchesters, und der „Vierten“ und „Neunten“ unter Soudant sind wertvolle Dokumente. Seit 2004 entstand, beginnend mit der „Fünften“, schließlich ein Zyklus der neun „offiziellen“ Bruckner-Symphonien unter der Leitung unseres langjährigen Chef- und nunmehrigen Ehrendirigenten Ivor Bolton, der 2015 mit der „Zweiten“ beendet wurde und als CD-Box erhältlich ist. Mittlerweile ist die inoffizielle „Nullte“ dazugekommen, die im aktuellen Bruckner-Jahr 2024 erscheinen wird. Was noch immer fehlt, ist die frühe „Studiensymphonie“. Bolton und Bruckner, dies ist jedenfalls eine Erfolgsgeschichte – die einer zeitlosen Begegnung zweier geradezu mystisch miteinander verwandter Musiker verschiedener Zeiten und Räume.

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung von Teilen des Artikels „Im Wandel der Zeiten. 175 Jahre Orchestergeschichte“, erschienen 2016 in: „Das Mozarteumorchester Salzburg“, herausgegeben vom Orchester im Verlag Müry Salzmann, Salzburg.

15. November 2023
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